F. Loetz (Hrsg.): Gelebte Reformation

Cover
Titel
Gelebte Reformation. Zürich 1500–1800


Herausgeber
Loetz, Francisca
Erschienen
Zürich 2022: Theologischer Verlag Zürich
Anzahl Seiten
544 S.
Preis
€ 60,00
von
Markus Schär

Mit einem Budget von 13,5 Millionen Franken feierte Zürich von 2017 bis 2019 das 500-Jahre-Jubiläum seiner Reformation. Da fand sich erfreulicherweise auch etwas Geld für Forschung, wie sich dieses welthistorische Ereignis auf Zürich auswirkte, in den folgenden Jahrhunderten und bis heute. Dafür legt Francisca Loetz einen reich bebilderten Band mit 22 Beiträgen sowie Quellenbeispielen von Sittenmandaten bis zu Stillstandsprotokollen vor. Er stellt, mit Tiefenbohrungen ins Alltagsleben der Zürcherinnen und Zürcher, die Reformation nicht als Disruption dar, sondern als langwierigen gesellschaftlichen Prozess, der im Mittelalter wurzelt und dessen Auswirkungen bis ins 18. Jahrhundert reichen. «Der Band sucht somit exemplarisch zu veranschaulichen», schreibt die Herausgeberin in ihrer kurzen Einleitung, «unter welchen innovativen Blickwinkeln Reformationsgeschichte dargestellt werden kann».

Die Beiträge sollen einerseits den Forschungsstand darlegen, anderseits aber auch auf neue Fragen verweisen, für die Experten wie für das Publikum. Teils stammen sie denn auch von Autorinnen und Autoren, die mit früheren Werken massgeblich zum Forschungsstand beigetragen haben. André Holenstein steckt den Rahmen, indem er zeigt, wie die 13 Orte der Eidgenossenschaft in der Zeit der Glaubenskämpfe in innerer Zwietracht und äusserer Eintracht zusammenlebten. Bruce Gordon stellt die Reformation als «gewaltige Unternehmung» dar, dies anhand der Neuformierung der Geistlichkeit, die sich auf der Zürcher Landschaft nur mit grossen Anstrengungen über Jahrzehnte durchsetzen liess. Randolph C. Head führt im Quellenteil vor, «wie Archivüberlieferung Reformationsgeschichte prägt». Anja Lobenstein-Reichmann gleicht die Zürcher Bibel in einer differenzierten linguistischen Studie mit der Übersetzung von Luther ab. Und Francisca Loetz selbst legt ihre Ermittlungen zu den Gotteslästerern dar.

Teils bieten die Beiträge aber auch Forschenden unterschiedlicher Fachdisziplinen und Karrierestufen die Gelegenheit, laufende Projekte vorzustellen. Eveline Szarka spürt so dem Glauben an spukende Geister nach, als «vielseitiges Phänomen der alltäglichen Lebensbewältigung, die den theologischen Dogmen nicht folgte». Nicole Zellweger führt die Praktiken der Seelsorger auf der Landschaft vor, im Spannungsfeld zwischen sozialer Kontrolle und empathischer Lebenshilfe, die nicht mehr von vermittelnden Instanzen wie der Jungfrau Maria und den Heiligen kommen durfte. Adrina Schulz nimmt sich die Huren vor, die sich nach der Schliessung der mittelalterlichen «Frauenhäuser» privat durchschlagen mussten, und Markus Brühlmeier die Schwulen mit ihrer «stummen Sünde »: Die Verfolgung von abweichenden Sexualpraktiken, so seine Erkenntnis, unterschied sich in reformierten und katholischen Gebieten nicht.

Spannend sind denn auch vor allem Beiträge, die das Alltagsleben der Zürcher Reformierten vergleichen, sei es mit jenem ihrer Vorfahren vor Zwingli oder mit jenem der Nachbarn in den Ständen, die beim alten Glauben blieben. Da zeigt sich die Reformation, wie Francisca Loetz in der Einleitung betont, tatsächlich nicht als Umbruch, sondern als Wandel, der sich über Jahrzehnte hinzog, wenn er überhaupt stattfand. Eveline Szarka schreibt auch zum Lachsnen und Segnen, also dem Heilzauber, den die Reformatoren ausrotten wollten, weil für sie jegliche sakrale Schutz- und Heilwirkung allein von Gott ausgehen konnte. Und sie kommt nach jahrhundertelangem Kampf der Obrigkeit zum Schluss, eine Einteilung der Praktiken in katholische und reformierte Formen sei wenig fruchtbar: «Die Zürcher und Zürcherinnen waren durchaus gewillt, vorreformatorische und katholische Elemente in ihre Behandlungen zu übernehmen.»

Ein überraschendes Fazit zieht auch Michael Egger, der in einem dichten, teils datengestützten Beitrag nachzeichnet, wie sich die zentrale Forderung der Reformatoren auswirkte: dass alle Gläubigen selbst die Bibel lesen, also ohne Vermittlung der Kirche ihr Seelenheil finden sollten. Der Autor zeigt zwar mit den «Seelenbeschreibungen», die die Pfarrherren zu ihren Gemeinden abliefern mussten (aber auch gestützt auf die vierzig Jahre alte Dissertation von Marie-Louise von Wartburg-Ambühl),1 wie sich der Bücherbestand, also wohl auch die Lesefähigkeit, im 17. und im 18. Jahrhundert auf der Landschaft verbreitete. Doch er stellt fest, es wäre zu einfach, daraus auf einen den Reformatoren geschuldeten Bildungsvorsprung zu schliessen: Am Ende des 18. Jahrhunderts, vor allem in der Helvetischen Schulumfrage von 1799, zeigte er sich im Vergleich mit den Katholiken nicht.

Am meisten Aufschlüsse bieten so jene Beiträge, die zeigen, dass sich die «gelebte, das heisst körperlich, sensorisch und sozial erfahrene Reformation» nicht direkt aus den Dogmen der Reformatoren ableiten liess, weil sich diese selbst wandelten. Francisca Loetz und Jan-Friedrich Missfelder stellen es bei der Praxis des Kirchengesangs fest: Der Musikliebhaber Zwingli verbot ihn, weil er das Singen als Herzensgebet im «kämerlin» verstand; der Rat holte ihn aber 1598 nach siebzig Jahren Stille in den Kirchenraum zurück, da er gemäss einem Gutachten «der substanz der religion nüt gäbe und nüt nemme». Martina Stercken und Carola Jäggi spüren den Wirkungen der Reformation im Stadtbild nach und stellen fest, der neue Glaube habe weder schlagartige Veränderungen noch restlos neue Verhältnisse gebracht: «Anders als man dies vielleicht annehmen würde, geht das heutige kahle Gepräge des Innenraums des Grossmünsters nicht auf die Ereignisse der 1520er-Jahre zurück, sondern auf mehrere tiefgreifende Restaurierungsmassnahmen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.» Und zu ähnlichen Schlüssen kommt Hildegard E. Keller, die den auffallendsten Bruch in den Auffassungen der Zürcher Geistlichen präzise aufzeigt: Sie begrüssten im 16. Jahrhundert aufwendige Freilichtspiele, bei denen sich die Bürgerschaft selber feierte. Und sie verdammten im 17. Jahrhundert das Theater, in Person von Antistes Johann Jakob Breitinger, weil es als katholische Lustbarkeit das Bilderverbot verletze. Diese lebensfeindliche Haltung lässt sich seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert beobachten; sie ist wohl mit der Krisenerfahrung nach dem Einbruch der kleinen Eiszeit zu erklären. Die frostige Zeit nach Breitingers Diffamierung des Theaters begründete für Hildegard E. Keller erst das Image eines fest- und lustfeindlichen Zürich: «Es hielt sich lange genug, dass niemand mehr an die Möglichkeit zu denken schien, dass es in Zwinglis Zürich und nach der Reformation ganz anders zu- und hergegangen sein könnte.»

Nach diesen überzeugenden, weil differenzierten Detailstudien fehlt allerdings eine Synthese. Sie müsste darstellen, wie sich der Umbruch von 1519 bis 1522 insgesamt auf das Leben der Zürcherinnen und Zürcher auswirkte und bis heute auswirkt. Und sie könnte die Entwicklung in Zürich in grosse Debatten einbinden, so in die seit einem Jahrhundert – von Max Weber bis Joseph Henrich – laufende um den Aufstieg Westeuropas, also die Great Divergence, oder in jene um die Territorialisierung, das heisst die Staatenbildung, bei der in Zürich die Kirche eine entscheidende Funktion hatte. Dazu forschten vor vierzig Jahren schon Schüler von Rudolf Braun, wie Ulrich Pfister2 David Gugerli3 oder der Rezensent, 4 der seine Dissertation scherzhaft als «Essay über die Verdüsterung des Zürcher Gemüts seit der Reformation» bezeichnete. Ihre Ansätze werden zwar gerne aufgegriffen, aber nie zitiert. Wer auf diese Vorläufer verweisen würde, könnte nicht so selbstbewusst den Anspruch erheben, innovative Reformationsgeschichte zu schreiben.

Anmerkungen
1 Marie-Louise von Wartburg-Ambühl, Alphabetisierung und Lektüre. Untersuchung am Beispiel einer ländlichen Region im 17. und 18. Jahrhundert, Bern 1981.
2 Ulrich Pfister, Die Anfänge von Geburtenbeschränkung. Eine Fallstudie (ausgewählte Zürcher Familien im 17. und 18. Jahrhundert), Bern 1985.
3 David Gugerli, Zwischen Pfrund und Predigt. Die protestantische Pfarrfamilie auf der Zürcher Landschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert, Zürich 1988.
4 Markus Schär, Seelennöte der Untertanen. Selbstmord, Melancholie und Religion im Alten Zürich, 1500–1800, Zürich 1985.

Zitierweise:
Schär, Markus: Rezension zu: Loetz, Francisca (Hg.): Gelebte Reformation. Zürich 1500–1800, Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(1), 2023, S. 59-61. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00120>.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit